Die Konzeption einer interlingualen Geolinguistik im Projekt VerbaAlpina (Präsentation) (Zitieren)

Thomas Krefeld


(1814 Wörter)

Dieser Präsentation liegt ein ausformulierter Text zu Grunde (Link).

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Übersicht

1. Eine dynamische Disziplin

2. Von der traditionellen Einsprachigkeit zur Mehrsprachigkeit

2.1 Die Modellierung der Mehrsprachigkeit

3. Neue mediale Rahmenbedingungen

3.1 Aggregation unterschiedlicher Typen von Quellen

3.2 Technische Verknüpfung der Sprachen/Dialekte

3.2.1 Ebene der sprachlichen Bezeichnungen

3.2.2 Ebene der Konzepte

4. Stratigraphische Wortgeschichte

1. Eine dynamische Disziplin

Gegenstand der Geolinguistik: die Raumgebundenheit und die räumlich bedingte Variation der Sprachen

methodologische Entwicklung der Disziplin:
♦ durch veränderte Sprachauffassungen
♦ durch den tiefgreifenden Wandel der Medien

besondere Herausforderungen:
♦ kontinuierlich wachsende Bedeutung, die der Mehrsprachigkeit (der mehrsprachigen Kompetenz der einzelnen Sprecher*innen)
♦ Einsatz von Webtechnologie in der Forschungspraxis.

2. Von der traditionellen Einsprachigkeit zur Mehrsprachigkeit

traditionelle Dialektologie, vor allem die klassischen Atlanten der ‘ersten Generation’
♦ monodimensional verstandene sprachliche (dialektaler) Systeme
♦ Variation innerhalb der lokalen Sprachen ausgeblendet
♦ elaborierte Form der Dokumentation mit erstaunlichen Beschränkungen (vgl. Krefeld/Lücke 2021)

1. Untersuchungsgebiete nach Maßgabe nationaler und nationalsprachlicher (d.h. politischer) Territorien  (vgl. z. B. ALG)
fragwürdig:
• verzerrte Darstellung des romanischen Kontinuums: Staatsgrenzen irrelevant für Dialektgebiete
• Vernachlässigung grenzüberschreitender Areale

2. nicht romanischsprachige Areale innerhalb nationaler Territorien oft nicht berücksichtigt (historische Verschiebung der Sprachgrenzen durch arealen Sprachwechsel)

♦ raumorientierte sprachwissenschaftliche Forschung = Geolinguistik (nicht nur Dialektologie)

VerbaAlpina (VA) → spezifische Lexikon des Alpenraums (vgl. onomasiologischer Rahmen)

• Alpenraum: seit 1500 Jahren Kontaktgebiet der drei großen europäischen Sprachfamilien (Romanisch, Germanisch, Slawisch)

→ interlinguale Geolinguistik

2.1 Die Modellierung der Mehrsprachigkeit

Kartenoberfläche
♦ synchrones räumliches Nebeneinander der drei Sprachfamilien (vgl. Interaktive Karte)
♦ keine Spezifizierung von Einzelsprachen (’Italienisch’) und Dialektzonen (wie z.B. ‘Lombardisch’)
♦ Bezugsgröße der Georeferenz = 6990 politische Gemeinden der Alpenkonvention

Zusammenschau der Quellen → historische Verschiebungen zwischen den Sprachgebietren durch Sprachwechsel sichtbar

• Graubünden: Orte aus den Netzen des AIS (Kartensymbol A) und des DRG (Kartensymbol B) liegen auf der folgenden Karte im grünen (= deutschen) Gebiet

♦ n.b.: rein virtuelle Kartographie entwickelt von Florian Zacherl & David Englmeier

Sprachwechsel in Graubünden am Beispiel einiger ehemals romanischsprachiger Orte des AIS und des DRG (interaktives Original)

Sprachwechsel = lokaler Übergang von einer Adstrat- in eine Substratkonstellation

VerbaAlpina
♦ keine Mosaikdarstellung der Sprachlandschaft durch Feststellung lokaler oder regionaler Sprachgrenzen
♦ die verbindenden Fugen – interlingual –  sichtbar machen
♦ im Wortschatz: sogenannte ‘Alpenwörter’ (Link)

3. Neue mediale Rahmenbedingungen

3.1 Aggregation unterschiedlicher Typen von Quellen

♦ Aggregation und Integration von Aufnahmeorten und Daten unterschiedlicher Projekte

• vorbildliche Zusammenarbeit mit dem ALD-I und dem ALD-II

♦ spezielle Tools (zur Transkription, zur Typisierung usw.) von Florian Zacherl entwickelt.

VA Informanten aus Atlanten (interaktives Original)

Nun gibt es zusätzlich zu den

♦ neben den Atlanten auch Daten etlicher, teils exhaustiv konzipierte Dialektwörterbücher, die in der geographischen Logik eines Atlasses realisiert wurden

• Lexikalisches Informationssystem Österreich (LIÖ, rosa Kartensymbol 'J')
Dicziunari rumantsch grischun (DRG, gelbes Kartensymbol 'D')
Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana (VSI, hellgelbes Kartensymbol 'I')
• Glossaire des patois de la Suisse romande (GPSR, lila Kartensymbol 'E')

VA Informanten aus Wörterbücher (interaktives Original)

♦ dritter Quellentyp:  direkte Erhebung von neuen Sprachbelegen durch Crowdsourcing (technisch von David Englmeier entwickelt); vgl.  Mitmachen

Bezeichnungen moderner Konzepte (Ökologie, Tourismus), die in den traditionellen Atlanten ebenso wie in den allermeisten Wörterbüchern fehlen
• 
Erfolg des Crowdsourcings sehr stark von der jeweiligen Region abhängig

VA Informanten aus der Crowd (28.9.2021, interaktives Original und Live Statistik)

3.2 Technische Verknüpfung der Sprachen/Dialekte

synoptische Darstellung von Formen aus unterschiedlichen Sprachen und Sprachfamilien
←  Verknüpfung in der Struktur des Datenbestands

3.2.1 Ebene der sprachlichen Bezeichnungen

Typisierung = Gruppierung der rein phonetischen Varianten zu morpho-lexikalischen Typen

• spezifisch für eine der drei Sprachfamilien;  aller Varianten eines Typs falls möglich identifiziert durch Varianten der großen Nationalsprachen Französisch und Italienisch
• 
Beispiel: die Suche nach fra. beurre / it. burro → eine Karte mit 718 Varianten (in Version 21/1), klickbare Symbole

der morpho-lexikalische Type beuerr/burro (roa) (interaktive Originalkarte)

♦ darunter auch die entsprechenden Formen der romanischen Kleinsprachen, wie z.B

botiro im Ladinischen von Moena  (Fassatal)
friaulisch butiro in Clauzetto

♦ Kategorie des morpho-lexikalischen Typs = interlingual im Rahmen einer Sprachfamilie

aber: deu. Butter, dialektal slowenisches put(e)r = Entlehnungen aus dem Romanischen, zum selben Typ gehörig

Basistyp = allgemeinste Kategorie, auch für Formen unterschiedlicher Sprachfamilien

• repräsentiert durch die jeweils identifizierbare etymologische Ausgangsform
• im Fall von fra. beurre, deu. Butter usw. = lat. butyrum (< dem Griechischen)
• Suche nach diesem Basistyp → produziert eine Karte mit den zugehörigen Formen in allen relevanten Sprachfamilien

der Basistyp. lat. butyrum (interaktive Originalkarte)

♦ Basistyp

= etymologischer Zusammenhang
• erbwörtlich
• entlehnungsgeschichtlich

≠ ‘Etymon’ bzw. ‘etymologischer Typ’
≠ Wortgeschichte der zugeordneten Typen

3.2.2 Ebene der Konzepte

♦ Suche an der Nutzeroberfläche nach einem Konzept → alle erfassten sprachlichen Bezeichnungstypen

Bezeichnungen des Konzepts BUTTER (unvollständige Legende; interaktive Originalkarte)

♦ darunter auch der germanische Basistyp Schmalz

• umgekehrte Entlehnungsrichtung wie der Basistyp butyrum
Deutsch → Romanisch

Ausschnitt aus der Legende von Karte ## (interaktive Originalkarte|https://www.verba-alpina.gwi.uni-muenchen.de/?page_id=133&db=xxx&tk=3972&layer=4]])

♦ ethnographische Hintergründe (Lat.-Rom. → Deu. vs. Deu → Lat.-Rom.) nicht im Detail

• Herstellung des Produkts (BUTTER): Lat.-Rom. → Germanisch (Deutsch)
• Auslassen der Butter (SCHMELZEN → SCHMALZ) , analog zum Auslassen des tierischen Fetts, vor allem des Schweinfetts als Konservierungstechnik: Deutsch → Romanisch

vgl. auch das so motivierte Kompositum Butterschmalz)

• weitere Ähnlichkeit von BUTTER und SCHMALZ: hoher Fettgehalt

vgl. den lat. Basistyp unctum, romanische Kognaten bezeichnen beides (vgl. Karte Basistyp lat. unctum

neue Optionen für konzeptgeleitete Verknüpfung von Bezeichnungen mehrerer Einzelsprachen

♦ umfangreiche Bestände von sachbezogenen Normdaten

• Konzepte unabhängig von den sprachlichen Bezeichnungen als autonomer Referenzbereich relationiert und strukturiert
• am weitesten fortgeschritten aber linguistisch allenfalls in Ansätzen genutzt: ‘Datenobjekte’ des Wikidata-Projekts (vgl. Krefeld 2021d)

= Identifikatoren (QIDs) zur Identifikation der enzyklopädischen Inhalte der Wikipedia

♦ Beispiel: QID für BUTTER (zugänglich über den Button ‘Wikidata-Datenobjekt’ in der linke Menüspalte des Wikpedia-Eintrags Butter) = Q34172.

• 141 Sprachversionen der Wikipedia Artikel zu dem Konzept BUTTER (Stand vom 2.11.2021)
• gemeines Referenz dieser 141 Artikel = Q34172
• etliche Versionen aus romanischen Sprachen
historisch wichtige Vorgänger- und Bezugssprachen
• zahlreiche europäische und koloniale Entlehnungen aus dem Romanischen 

Romanische Bezeichnungen europäische Entlehnungen
Herkunftssprachen Entlehnungen im kolonialen Kontext

♦ analog: Wikidata-Eintrag SCHMALZ (lard (Q72827)

♦ Sprachversionen mit Bezeichnungen ← Übertragung der Bezeichnungen von BUTTER

• asturisch mantega de gochu, wörtlich ‘Butter vom Schwein’
• span. manteca de cerdo, wörtlich ebenfalls ‘Butter vom Schwein’

♦ Verknüpfung der onomasiologischen – oder: ontologischen – Einheiten in Gestalt von dreigliedrigen Prädikatsausdrücken oder: Tripeln (so genannten ‘statements’) im Wikidata-Projekt

• ‘statements’ für BUTTER und SCHMALZ (Stand vom 7.11.2021)

butter (Q34172) instance of (P31) food ingredient (Q25403900)
subclass of (P279) dairy product
edible fats and oils (Q912613)
lard (Q72827) instance of (P31) chemical substance (Q79529)
food ingredient (Q25403900)
subclass of (P279) edible fats and oils (Q912613)
die Wikidata-Statements zu den Konzepten BUTTER und SCHMALZ

♦ Tripel fundamental für das sogenannten Semantic Web
in das dafür erforderliche Format der RDF-Tripel überführbar

♦ aus linguistischer Sicht gerade kein ‘semantisches’ (sprachgebundenes), sondern ein onomasiologisches (sprachunabhängiges) Netz

• elementare Gemeinsamkeiten der beiden Konzepte kommen zum Ausdruck kommen
• formale Abfragesprache für die Wikidata-Datenbank = SPARQL
• potentielle semantische Gemeinsamkeiten zwischen den Bezeichnungen und die darauf beruhenden Übertragungen durch semantische Prozesse (Metaphern, Metonymien, Meronymien, taxonomische Verschiebungen) → vorhersehbar bzw. motivier- und nachvollziehbar

Suche nach den ‘subclasses’ von ‘edible fats and oils’ → Liste:

 wd:Q4287 Margarine
 wd:Q34172 Butter
 wd:Q72827 Schmalz
 wd:Q427457 Speiseöle
 wd:Q1194601 Shortening
 wd:Q1423543 Tierfett
 wd:Q1727434 Streichfett
 wd:Q2310378 Horse fat
 wd:Q11870297 Pflanzenfett
 wd:Q68187377 Gänsefett

Abfrage:

SELECT ?item ?itemLabel
WHERE
{
?item wdt:P279 wd:Q912613.
SERVICE wikibase:label { bd:serviceParam wikibase:language "[AUTO_LANGUAGE],en". }
}))

♦ aber: wichtige Unterschiede in Statements nicht erfasst, obwohl leicht möglich

• Arten der Produktion (SCHLAGEN VON RAHM im Fall von BUTTER und ERHITZEN im Fall SCHMALZ, [[Q779316|https://www.wikidata.org/wiki/Q779316]])
• benutzte Geräte (z.B. das BUTTERFASS;
Q1018079)
• usw.

→ Motivation anderer semantischer Prozessen
pignatta, bündnerrom. pischada < lat. *pisiare ‘stampfen’; vgl. die interaktive Karte pischada)

Appell an einschlägige sprachwissenschaftliche Projekte:
Wikidata-Statements im jeweiligen thematischen Rahmen systematisch ergänzen

4. Stratigraphische Wortgeschichte

♦ wortgeschichtliches  Profil des Basistyps: vor dem Hintergrund der sprachlichen Stratigraphie des Alpenraums

• besondere Rolle des Lat.-Rom. (Romanisierung seit 15 n.Chr.)
• seit 476 n.Chr. teilweise Germanisierund und Slawisierund
• teilweise Verdrängung des Slaw. durch das Germ.
• zeitweise germ.  Superstrat im rom. und slaw. Gebiet (Gotisch, Langobardisch, Bairisch bzw. bairisch geprägtes Hochdeutsch)

• Elemente der vorrömischen Sprachen in Lexikon und in Toponymie des gesamten Raums deutlich erkennbar (vgl. Krefeld 2020c); indirekt, d.h. über das Lateinisch-Romanische ins Alpengermanische bzw. ins Alpenslawische gelangt

♦ Beispiel: 

Stratigraphie des Basistyps lat. butyrum

 


Bibliographie

  • AIS = Jaberg, Karl / Jud, Jakob (1928-1940): Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, Zofingen, vol. 1-7
  • ALD-I = Goebl, Hans (1998): Atlant linguistich dl ladin dolomitich y di dialec vejins I, vol. 1-7 (sprechend: http://ald.sbg.ac.at/ald/ald-i/index.php), Wiesbaden, vol. 1-7, Reichert. Link
  • ALD-II = Goebl, Hans (2012): Atlant linguistich dl ladin dolomitich y di dialec vejins, 2a pert, vol. 1-5, Editions de Linguistique et de Philologie. Link
  • ALG = Séguy, Jean (1973): Atlas linguistique de la Gascogne, Toulouse, vol. 6, Inst. d'Études Mérid. de la Fac. des Lettres [u.a.]
  • DRG = De Planta, Robert/ Melcher, Florian/ Pult, Chasper/ Giger, Felix (1938ff.): Dicziunari Rumantsch grischun, Chur, Inst. dal Dicziunari Rumantsch Grischun. Link
  • GPSR = Gauchat, Louis (Hrsg.) (1924ff.): Glossaire des patois de la Suisse romande, Genève [u.a.], Droz [u.a.]
  • Krefeld 2020c = Krefeld, Thomas (2020): Polystratale und monostratale Toponomastik – am Beispiel der Romania Submersa und der Insel La Réunion, Version 4 (02.04.2020, 11:26), München, in: Korpus im Text. Link
  • Krefeld 2021d = Krefeld, Thomas (2021): Wikidata – semiotisch: Mit Roland Barthes im Internet, München, in: Korpus im Text, Serie A, 71498. Link
  • Krefeld/Lücke 2021 = Krefeld, Thomas / Lücke, Stephan (2021): (Unsere) Prinzipien der virtuellen Geolinguistik. Link
  • LIÖ = Lenz, Alexandra N. (o.J.): Lexikalisches Informationssystem Österreich (LIÖ). Link
  • VSI = Sganzini, Silvio (1952ff): Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana, Lugano, Tipografia la Commerciale