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Übersicht1. Eine dynamische Disziplin2. Von der traditionellen Einsprachigkeit zur Mehrsprachigkeit2.1 Die Modellierung der Mehrsprachigkeit3. Neue mediale Rahmenbedingungen3.1 Aggregation unterschiedlicher Typen von Quellen3.2 Technische Verknüpfung der Sprachen/Dialekte3.2.1 Ebene der sprachlichen Bezeichnungen3.2.2 Ebene der Konzepte4. Stratigraphische Wortgeschichte |
1. Eine dynamische Disziplin
Gegenstand der Geolinguistik: die Raumgebundenheit und die räumlich bedingte Variation der Sprachen
methodologische Entwicklung der Disziplin:
♦ durch veränderte Sprachauffassungen
♦ durch den tiefgreifenden Wandel der Medien
besondere Herausforderungen:
♦ kontinuierlich wachsende Bedeutung, die der Mehrsprachigkeit (der mehrsprachigen Kompetenz der einzelnen Sprecher*innen)
♦ Einsatz von Webtechnologie in der Forschungspraxis.
2. Von der traditionellen Einsprachigkeit zur Mehrsprachigkeit
traditionelle Dialektologie, vor allem die klassischen Atlanten der ‘ersten Generation’
♦ monodimensional verstandene sprachliche (dialektaler) Systeme
♦ Variation innerhalb der lokalen Sprachen ausgeblendet
♦ elaborierte Form der Dokumentation mit erstaunlichen Beschränkungen (vgl. Krefeld/Lücke 2021)
1. Untersuchungsgebiete nach Maßgabe nationaler und nationalsprachlicher (d.h. politischer) Territorien (vgl. z. B. ALG)
fragwürdig:
• verzerrte Darstellung des romanischen Kontinuums: Staatsgrenzen irrelevant für Dialektgebiete
• Vernachlässigung grenzüberschreitender Areale
2. nicht romanischsprachige Areale innerhalb nationaler Territorien oft nicht berücksichtigt (historische Verschiebung der Sprachgrenzen durch arealen Sprachwechsel)
♦ raumorientierte sprachwissenschaftliche Forschung = Geolinguistik (nicht nur Dialektologie)
VerbaAlpina (VA) → spezifische Lexikon des Alpenraums (vgl. onomasiologischer Rahmen)
• Alpenraum: seit 1500 Jahren Kontaktgebiet der drei großen europäischen Sprachfamilien (Romanisch, Germanisch, Slawisch)
→ interlinguale Geolinguistik |
2.1 Die Modellierung der Mehrsprachigkeit
Kartenoberfläche
♦ synchrones räumliches Nebeneinander der drei Sprachfamilien (vgl. Interaktive Karte)
♦ keine Spezifizierung von Einzelsprachen (’Italienisch’) und Dialektzonen (wie z.B. ‘Lombardisch’)
♦ Bezugsgröße der Georeferenz = 6990 politische Gemeinden der Alpenkonvention
Zusammenschau der Quellen → historische Verschiebungen zwischen den Sprachgebietren durch Sprachwechsel sichtbar
• Graubünden: Orte aus den Netzen des AIS (Kartensymbol A) und des DRG (Kartensymbol B) liegen auf der folgenden Karte im grünen (= deutschen) Gebiet
♦ n.b.: rein virtuelle Kartographie entwickelt von Florian Zacherl & David Englmeier
Sprachwechsel = lokaler Übergang von einer Adstrat- in eine Substratkonstellation |
VerbaAlpina
♦ keine Mosaikdarstellung der Sprachlandschaft durch Feststellung lokaler oder regionaler Sprachgrenzen
♦ die verbindenden Fugen – interlingual – sichtbar machen
♦ im Wortschatz: sogenannte ‘Alpenwörter’ (Link)
3. Neue mediale Rahmenbedingungen
3.1 Aggregation unterschiedlicher Typen von Quellen
♦ Aggregation und Integration von Aufnahmeorten und Daten unterschiedlicher Projekte
• vorbildliche Zusammenarbeit mit dem ALD-I und dem ALD-II
♦ spezielle Tools (zur Transkription, zur Typisierung usw.) von Florian Zacherl entwickelt.
Nun gibt es zusätzlich zu den♦ neben den Atlanten auch Daten etlicher, teils exhaustiv konzipierte Dialektwörterbücher, die in der geographischen Logik eines Atlasses realisiert wurden
• Lexikalisches Informationssystem Österreich (LIÖ, rosa Kartensymbol 'J')
• Dicziunari rumantsch grischun (DRG, gelbes Kartensymbol 'D')
• Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana (VSI, hellgelbes Kartensymbol 'I')
• Glossaire des patois de la Suisse romande (GPSR, lila Kartensymbol 'E')
• Bezeichnungen moderner Konzepte (Ökologie, Tourismus), die in den traditionellen Atlanten ebenso wie in den allermeisten Wörterbüchern fehlen
• Erfolg des Crowdsourcings sehr stark von der jeweiligen Region abhängig
3.2 Technische Verknüpfung der Sprachen/Dialekte
synoptische Darstellung von Formen aus unterschiedlichen Sprachen und Sprachfamilien ← Verknüpfung in der Struktur des Datenbestands |
3.2.1 Ebene der sprachlichen Bezeichnungen
♦ Typisierung = Gruppierung der rein phonetischen Varianten zu morpho-lexikalischen Typen
• spezifisch für eine der drei Sprachfamilien; aller Varianten eines Typs falls möglich identifiziert durch Varianten der großen Nationalsprachen Französisch und Italienisch
• Beispiel: die Suche nach fra. beurre / it. burro → eine Karte mit 718 Varianten (in Version 21/1), klickbare Symbole
botiro im Ladinischen von Moena (Fassatal)
friaulisch butiro in Clauzetto
♦ Kategorie des morpho-lexikalischen Typs = interlingual im Rahmen einer Sprachfamilie
aber: deu. Butter, dialektal slowenisches put(e)r = Entlehnungen aus dem Romanischen, zum selben Typ gehörig
♦ Basistyp = allgemeinste Kategorie, auch für Formen unterschiedlicher Sprachfamilien
• repräsentiert durch die jeweils identifizierbare etymologische Ausgangsform
• im Fall von fra. beurre, deu. Butter usw. = lat. butyrum (< dem Griechischen)
• Suche nach diesem Basistyp → produziert eine Karte mit den zugehörigen Formen in allen relevanten Sprachfamilien
= etymologischer Zusammenhang
• erbwörtlich
• entlehnungsgeschichtlich
≠ ‘Etymon’ bzw. ‘etymologischer Typ’
≠ Wortgeschichte der zugeordneten Typen
3.2.2 Ebene der Konzepte
♦ Suche an der Nutzeroberfläche nach einem Konzept → alle erfassten sprachlichen Bezeichnungstypen
♦ darunter auch der germanische Basistyp Schmalz• umgekehrte Entlehnungsrichtung wie der Basistyp butyrum
Deutsch → Romanisch
♦ ethnographische Hintergründe (Lat.-Rom. → Deu. vs. Deu → Lat.-Rom.) nicht im Detail
• Herstellung des Produkts (BUTTER): Lat.-Rom. → Germanisch (Deutsch)
• Auslassen der Butter (SCHMELZEN → SCHMALZ) , analog zum Auslassen des tierischen Fetts, vor allem des Schweinfetts als Konservierungstechnik: Deutsch → Romanisch
vgl. auch das so motivierte Kompositum Butterschmalz)
• weitere Ähnlichkeit von BUTTER und SCHMALZ: hoher Fettgehalt
vgl. den lat. Basistyp unctum, romanische Kognaten bezeichnen beides (vgl. Karte Basistyp lat. unctum
neue Optionen für konzeptgeleitete Verknüpfung von Bezeichnungen mehrerer Einzelsprachen |
♦ umfangreiche Bestände von sachbezogenen Normdaten
• Konzepte unabhängig von den sprachlichen Bezeichnungen als autonomer Referenzbereich relationiert und strukturiert
• am weitesten fortgeschritten aber linguistisch allenfalls in Ansätzen genutzt: ‘Datenobjekte’ des Wikidata-Projekts (vgl. Krefeld 2021d)
= Identifikatoren (QIDs) zur Identifikation der enzyklopädischen Inhalte der Wikipedia
♦ Beispiel: QID für BUTTER (zugänglich über den Button ‘Wikidata-Datenobjekt’ in der linke Menüspalte des Wikpedia-Eintrags Butter) = Q34172.
• 141 Sprachversionen der Wikipedia Artikel zu dem Konzept BUTTER (Stand vom 2.11.2021)
• gemeines Referenz dieser 141 Artikel = Q34172
• etliche Versionen aus romanischen Sprachen
• historisch wichtige Vorgänger- und Bezugssprachen
• zahlreiche europäische und koloniale Entlehnungen aus dem Romanischen
Romanische Bezeichnungen
|
europäische Entlehnungen |
Herkunftssprachen | Entlehnungen im kolonialen Kontext
|
♦ analog: Wikidata-Eintrag SCHMALZ (lard (Q72827)
♦ Sprachversionen mit Bezeichnungen ← Übertragung der Bezeichnungen von BUTTER
• asturisch mantega de gochu, wörtlich ‘Butter vom Schwein’
• span. manteca de cerdo, wörtlich ebenfalls ‘Butter vom Schwein’
♦ Verknüpfung der onomasiologischen – oder: ontologischen – Einheiten in Gestalt von dreigliedrigen Prädikatsausdrücken oder: Tripeln (so genannten ‘statements’) im Wikidata-Projekt
• ‘statements’ für BUTTER und SCHMALZ (Stand vom 7.11.2021)
butter (Q34172) | instance of (P31) | food ingredient (Q25403900) |
subclass of (P279) | dairy product | |
edible fats and oils (Q912613) | ||
lard (Q72827) | instance of (P31) | chemical substance (Q79529) |
food ingredient (Q25403900) | ||
subclass of (P279) | edible fats and oils (Q912613) | |
die Wikidata-Statements zu den Konzepten BUTTER und SCHMALZ |
♦ Tripel fundamental für das sogenannten Semantic Web
in das dafür erforderliche Format der RDF-Tripel überführbar
♦ aus linguistischer Sicht gerade kein ‘semantisches’ (sprachgebundenes), sondern ein onomasiologisches (sprachunabhängiges) Netz
• elementare Gemeinsamkeiten der beiden Konzepte kommen zum Ausdruck kommen
• formale Abfragesprache für die Wikidata-Datenbank = SPARQL
• potentielle semantische Gemeinsamkeiten zwischen den Bezeichnungen und die darauf beruhenden Übertragungen durch semantische Prozesse (Metaphern, Metonymien, Meronymien, taxonomische Verschiebungen) → vorhersehbar bzw. motivier- und nachvollziehbar
Suche nach den ‘subclasses’ von ‘edible fats and oils’ → Liste:
wd:Q4287 | Margarine |
wd:Q34172 | Butter |
wd:Q72827 | Schmalz |
wd:Q427457 | Speiseöle |
wd:Q1194601 | Shortening |
wd:Q1423543 | Tierfett |
wd:Q1727434 | Streichfett |
wd:Q2310378 | Horse fat |
wd:Q11870297 | Pflanzenfett |
wd:Q68187377 | Gänsefett |
Abfrage:
SELECT ?item ?itemLabel
WHERE
{
?item wdt:P279 wd:Q912613.
SERVICE wikibase:label { bd:serviceParam wikibase:language "[AUTO_LANGUAGE],en". }
}))
♦ aber: wichtige Unterschiede in Statements nicht erfasst, obwohl leicht möglich
• Arten der Produktion (SCHLAGEN VON RAHM im Fall von BUTTER und ERHITZEN im Fall SCHMALZ, [[Q779316|https://www.wikidata.org/wiki/Q779316]])
• benutzte Geräte (z.B. das BUTTERFASS; Q1018079)
• usw.
→ Motivation anderer semantischer Prozessen
pignatta, bündnerrom. pischada < lat. *pisiare ‘stampfen’; vgl. die interaktive Karte pischada)
Appell an einschlägige sprachwissenschaftliche Projekte: Wikidata-Statements im jeweiligen thematischen Rahmen systematisch ergänzen |
4. Stratigraphische Wortgeschichte
♦ wortgeschichtliches Profil des Basistyps: vor dem Hintergrund der sprachlichen Stratigraphie des Alpenraums
• besondere Rolle des Lat.-Rom. (Romanisierung seit 15 n.Chr.)
• seit 476 n.Chr. teilweise Germanisierund und Slawisierund
• teilweise Verdrängung des Slaw. durch das Germ.
• zeitweise germ. Superstrat im rom. und slaw. Gebiet (Gotisch, Langobardisch, Bairisch bzw. bairisch geprägtes Hochdeutsch)
• Elemente der vorrömischen Sprachen in Lexikon und in Toponymie des gesamten Raums deutlich erkennbar (vgl. Krefeld 2020c); indirekt, d.h. über das Lateinisch-Romanische ins Alpengermanische bzw. ins Alpenslawische gelangt
♦ Beispiel:
Bibliographie
- AIS = Jaberg, Karl / Jud, Jakob (1928-1940): Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, Zofingen, vol. 1-7
- ALD-I = Goebl, Hans (1998): Atlant linguistich dl ladin dolomitich y di dialec vejins I, vol. 1-7 (sprechend: http://ald.sbg.ac.at/ald/ald-i/index.php), Wiesbaden, vol. 1-7, Reichert. Link
- ALD-II = Goebl, Hans (2012): Atlant linguistich dl ladin dolomitich y di dialec vejins, 2a pert, vol. 1-5, Editions de Linguistique et de Philologie. Link
- ALG = Séguy, Jean (1973): Atlas linguistique de la Gascogne, Toulouse, vol. 6, Inst. d'Études Mérid. de la Fac. des Lettres [u.a.]
- DRG = De Planta, Robert/ Melcher, Florian/ Pult, Chasper/ Giger, Felix (1938ff.): Dicziunari Rumantsch grischun, Chur, Inst. dal Dicziunari Rumantsch Grischun. Link
- GPSR = Gauchat, Louis (Hrsg.) (1924ff.): Glossaire des patois de la Suisse romande, Genève [u.a.], Droz [u.a.]
- Krefeld 2020c = Krefeld, Thomas (2020): Polystratale und monostratale Toponomastik – am Beispiel der Romania Submersa und der Insel La Réunion, Version 4 (02.04.2020, 11:26), München, in: Korpus im Text. Link
- Krefeld 2021d = Krefeld, Thomas (2021): Wikidata – semiotisch: Mit Roland Barthes im Internet, München, in: Korpus im Text, Serie A, 71498. Link
- Krefeld/Lücke 2021 = Krefeld, Thomas / Lücke, Stephan (2021): (Unsere) Prinzipien der virtuellen Geolinguistik. Link
- LIÖ = Lenz, Alexandra N. (o.J.): Lexikalisches Informationssystem Österreich (LIÖ). Link
- VSI = Sganzini, Silvio (1952ff): Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana, Lugano, Tipografia la Commerciale