Neues von den Sprach- und Sachatlanten – anlässlich des Atlas des Patois Valdôtains (APV/1) (Zitieren)

Thomas Krefeld


(3819 Wörter)

Favre, Saverio / Raimondi, Gianmario  (eds.), Atlas des Patois Valdôtains. APV/1 – Le lait et les activités laitières, Arvier, Le Château, 2020, 112 Karten, 241 p.

1. Der geolinguistische Forschungshorizont

Die Geolinguistik – um den zu engen Ausdruck Dialektologie zu vermeiden – hat in der Geschichte der Sprachwissenschaft eine überaus wichtige, von manchen stark unterschätze Rolle gespielt. Das gilt nicht nur im Hinblick auf ihre ganz spezifischen Produkte – in erster Linie Lexika und Atlanten – sondern in ganz besonderem Maße für die Entwicklung und Reflexion grundlegender Methodologien, aus denen die Produkte hervorgehen konnten. So lässt sich der Horizont der geolinguistischen  Forschungstraditionen mit den im Folgenden genannten ‘Landmarken’ und einigen zugehörigen Pionierarbeiten abstecken, an denen sich nicht selten dann auch andere sprachwissenschaftliche Subdisziplinen orientierten.

1.1. Die Anfänge der Dialektologie stehen zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zeichen der Lexikographie: Mit nur geringer Differenz erscheinen der  Vocabolario milanese-italiano von Francesco Cherubini (1814) das Bayerische Wörterbuch von Johann Andreas Schmeller (1827-1837) und im Unterschied zur bereits etablierten Lexikographie liegen diesen beiden wichtigen Referenzwörterbüchern die Erhebungen gesprochener Daten zu Grunde. Damit stellten sich den Autoren bereits alle einschlägigen Fragen der Selektion und Repräsentativität der Informanten. Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, die im 19. Jahrhundert zum dominanten  Forschungsparadigma avancierte, verstand sich dagegen philologisch und arbeitete auf der Grundlage möglichst alter, schriftlich überlieferter Texte.

1.2. Der Anspruch auf ethnographische Kontextualisierung wird im Titel von Weigand 1892 explizit erhoben; inhaltlich liegt er identischer Weise aber bereits in Weigand 1888 vor. Entschieden in den Vordergrund gerückt wird die Ethnographie in Wagner 1921 und mit den systematischen Erhebungen des AIS (verstärkt seit 1920) wird die kombinierte Sach- und Sprachforschung zum festen dialektologischen Paradigma, in dem die Semasiologie und die Onomasiologie – ganz im Unterschied zum ALF – mit derselben Sorgfalt differenziert dokumentiert werden: Die alltagsweltliche Kontextualisierung der Sprachdaten gilt hier als unumgänglich. Kaum Berücksichtigung fand die Ethnographie dagegen in weiten Teilen der germanistischen Dialektologie, die der Tradition von Wenker verhaftet blieb – der SDS und der VALTS sind in dieser Hinsicht untypisch, da sie den romanistischen Atlanten näherstehen.

1.3. Mit dem Intstrument des Fragebuchs konstruierten die Sprachatlanten (seit dem ALF) einen onomasiologischen Hintergrund, auf den sämtliche Sprachdaten bezogen werden konnten; so wurde systematische Vergleichbarkeit zwischen den Aufnahmepunkten ermöglicht; ein meist übersehener, innovativer Vorläufer war Francesco Cherubini 1814, der bei den Erhebungen für sein Wörterbuch die außerordentlich detaillierten Illustrationen aus den Abbildungsbänden (Planches) der Encyclopédie von D'Alembert und Diderot als Stimuli benützte:

„chiamai spesso a consulta varj artisti; e mostrando loro sulle tavole dell’Enciclopédie i varj utensili dell’arte loro, almeno dei principali fra questi mi feci dire da essi i nomi vernacoli; ed io quindi coll’ajuto de’ termini francesi usati dall’Enciclopedia stessa cercai e rinvenni per la maggior parte gli equivalenti toscani.“ (Cherubini 1814, XIII, Anm.)

1.4. Zum Netz des AIS gehören neben romanischen Aufnahmeorten auch einige albanische und griechische Punkte, so dass Sprachkontaktszenarien erfasst werden. Die allermeisten Sprachatlanten haben sich dieses wichtige Prinzip jedoch selbst dann nicht zu eigen gemacht, wenn  ihre Untersuchungsgebiete sich traditionell durch Mehrsprachigkeit auszeichnen; immerhin werden im ALS auch Siculoalbaner (Arberësh) und im AsiCa Sprecher im extraterritorialen (post)migratorischen Kontext berücksichtigt.

1.5. Die Systemlinguistik und formal-universalistisch ausgerichtete Ansätze, die im 20. Jahrhundert im Vordergrund standen, waren nicht per se an der Variation der sprachlichen Einheiten interessiert und benötigten daher keine sehr umfassenden Korpora. Außerdem gilt der Bezug auf die außersprachliche, kulturell geprägte Realität für alle diejenigen als irrelevant, die an eine Isolierbarkeit sprachlicher Strukturen im Sinne einer ‘internen’ Sprachwissenschaft bzw. Sprachgeschichtsschreibung glauben. Dadurch geriet die Dialektologie – in der Außenwahrnehmung – in einen klaren Gegensatz zu diesen oft als prestigereicher angesehenen sprachwissenschaftlichen Subdisziplinen. Andererseits entstand mit zunehmend umfangreichen Datenbeständen ein schärferes Bewusstsein der multidimensionalen Markiertheit sprachlicher Varianten, das erstmals im ADDU, dann im ALS und im MRhSA zu einer komplexeren Modellierung des sprachlichen Raums führte.

1.6. Die Relativierung systemlinguistischer und exklusiv ‘interner’ Konzeptionen stand in engem Zusammenhang mit der methodologischen Neubewertung des individuellen Sprechers und seines vorwissenschaftlichen Sprachwissens; so entstand komplementär eine perzeptive Dialektologie (vgl. Preston 1982 und Postlep 2010), deren Tests einen Zugang zur Kognition der Variation (vgl. Krefeld/Pustka erscheint) vermitteln.

1.7. Um der Allgegenwart sprachräumlicher Variation zu begegnen, entwickelte die Geolinguistik ein emphatisches Verhältnis zur Empirie im Allgemeinen und zum mündlich elizitierten Einzeldatum im Besonderen. Es war daher selbstverständlich sehr früh digitale Techniken zu nutzen; Pionierarbeit leistete in der Romanistik der ALD.

Der skizzierte geolinguistische Forschungshorizont lässt sich nun wie folgt schematisieren:

Der geolinguistische Forschungshorizont mit einigen Pionieren

Die zuletzt genannte Digitalisierung eröffnet allerdings vielfältige Optionen und erfordert eine Spezifizierung, denn der systematische Einsatz von Web-Technologie hat fundamental andere Rahmenbedingungen für die Wissenschaftskommunikation hervorgebracht:

  • Durch die Einbindung von Audiofiles können Daten gesprochener Sprache medial authentisch wiedergegeben werden (vgl. ALD, AdA, AsiCa u.a.); so können auch reine Audio-Archive allgemein zugänglich gemacht werden (vgl. exemplarisch das toskanische Gra.fo);
  • die Erhebungen selbst können mittels  Crowdsourcing auf Forschungsplattformen bewerkstelligt werden (vgl. AdA, ALIQUOT, VerbaAlpina u.a.);
  • auch große Datenmangen lassen sich auf der Basis von Datenbanken analysieren, kartieren und in anderer Weise visualisieren (vgl. ALD und als Vorläufer ALG);
  • die Onomasiologie wird mittels Normdaten auf eine radikal sprachunabhängige und (im informationstechnischen Sinn) ontologische Basis gestellt (vgl. VerbaAlpina);
  • Datenbestände einzelner Projekte lassen sich (auch noch im Nachhinein) aggregieren und   und mit den Beständen anderer Projekte großräumig verknüpfen (vgl. VerbaAlpina).

Schematisch ergibt sich sich damit für die web-basierte Geolinguistik der folgende virtuelle Horizont:

Horizont der web-basierten Geolinguistik

2. Konzeption

Selbstverständlich, möchte man sagen, entsprechen die aktuellen geolinguistischen Projekte nicht allen Anforderungen gleichermaßen; vielmehr bewegen sie sich in der Regel in einem verengten Horizont. Im Fall des APV/1 wird er durch die Bereiche 1.1.-1.4. begrenzt, mit einem ganz klaren Fokus auf 1.2: In dieser ethnographischen Hinsicht wurden zweifellos neue Maßstäbe gesetzt. In 112 thematischen Artikel werden die folgenden vier Gebieten behandelt: La traite (Kap. 1-19), Entre l’étable, la cave et la fruitière (Kap. 20- 48), Le beurre (Kap. 49-73), Le sérac et les produits dérivés des petits-laits (Kap, 74-112) (Link). Zu Grunde lag das Fragebuch von Gaston Tuaillon, das auch für den ALJA und den ALEPO verwandt wurde (10). Das Ortsnetz besteht aus 22 Punkten, von denen jeweils 2 in angrenzenden Gegenden Frankreichs, des Piemont und im Wallis liegen. Befragt wurden pro Ort mehrere Informanten, aber biographische Details erfährt man nicht. 

Sehr überzeugend sind die Anlage des gesamten Bandes (mit sehr differenzierten lexikologischen Indizes) sowie die Gestaltung der einzelnen Kapitel, in denen systematisch Kartographie und sprachwissenschaftlicher Kommentar kombiniert werden. Im Zentrum stehen jeweils eine analytische Karte und ein Text, der die erhobenen Belege typisiert und lexikologisch, d.h. phonetisch, semantisch, onomasiologisch und etymologisch analysiert. Womöglich wird der jeweilige Typ im Kontext kurzer Ethnotexte belegt, die bei der Datenerhebung mit den Informanten aufgenommen wurden. Es wäre erfreulich, wenn sich diese, in der italienischen Dialektlexikographie seit längerem bewährte Dokumentationstechnik (vgl. exemplarisch Sottile 2002) grundsätzlich als Standard etablieren würde. Die sachliche Beschreibung wird durch Zeichnungen und Fotos unterstützt. Weiterhin wird die dokumentierte lexikalische und phonetische Variation durch kleinere, aber sehr prägnante synthetische Karten  visualisiert. Das Fehlen eines vergleichbaren Apparats macht die meisten bislang publizierten Sprachatlanten zu Instrumenten des Wissenschaftlers, obwohl der Kreis der Interessenten in den Sprechergemeinschaften ganz eindeutig darüber hinaus geht. Begrüßenswert war auch die Entscheidung die ursprünglich vorgesehene Transkription nach dem System des ALF bzw.  von Rousselot durch eine IPA-Transkription zu ersetzen; schließlich  freut sich der Leser während der Lektüre über das lose eingelegte Faltblatt mit vollen Ortsnamen, den Siglen, Abkürzungen und dem Transkriptionssystem. Alles wurde unter der Prämisse ein gedrucktes Buch zu publizieren durch und durch vernünftig eingerichtet.

Anlässlich der Buchpräsentation wurde jedoch explizit und nachdrücklich der unbedingt vorbildliche Anspruch formuliert auch für Laien und insbesondere für die Sprecher*innen selbst verstehbar zu sein:

«I 112 articoli principali che compongono il volume esplorano le “parole” e le “cose” di un settore fortemente caratterizzante la cultura materiale alpina tradizionale: la filiera del latte. Lo fanno tenendo certamente presente la tradizione scientifica consolidata della geolinguistica delle lingue romanze, ma con una particolare attenzione anche alla “divulgazione” dei contenuti scientifici, al loro riutilizzo come tema di interesse nella scuola valdostana, alla loro “restituzione” alla comunità locale (patoisante e non) che ne è, a ben vedere, la prima proprietaria." (Quelle)

Gemessen an dieser Absicht ist nun die grundsätzliche Entscheidung  für eine gedruckte, buchförmige Publikation nur schwer nachvollziehbar. Denn einer der unbestreitbaren Vorzüge der Web-Publikation besteht ja gerade in ihrer vollkommen uneingeschränkten Verfügbarkeit für sehr unterschiedliche Nutzergruppen.##

- von den anderen Optionen, wie z.B. der Möglichkeit auch Audiomaterial einzubinden, den Datenbestand kontinuierlich zu erweitern und/oder zu verknüpfen einmal ganz abgesehen.

3. Diskussion

Der zugänglich gemachte lexikalische Bestand ist zwar noch recht übersichtlich, aber allemal hinreichend, um das Aostatal als Schnittpunkt vollkommen unterschiedlicher Wortareale zu profilieren. Sie ließen sich auf ein Kontinuum abbilden, dass von ganz lokaler Verbreitung in einem womöglich kleinen Teil des Aostatals (z.B. guieppé ‘melken’, Kap. 1-8) bis zu weiträumiger Verbreitung reicht (z.B. lat. FORMATICU, Kap. 1-82) . Nach Maßgabe ihrer sprachgeschichtlichen Transparenz repräsentieren die erfassten Worttypen jeweils die raumprägenden historischen Konstellationen und leisten einen substantiellen Beitrag zur Stratigraphie des Valdostanischen und mittelbar des gesamten Alpenraums, da sie nicht selten über die Grenzen der Sprachfamilien hinweg reichen. Einige stratigraphische Leitwörter des APV/1 sollen m Folgenden skizziert werden.

3.1 Das lateinisch-romanische Stratum

Die Schlüsselrolle spielt dabei das lateinisch-romanische Stratum, da es als einziges die heute romanischen, germanischen (d.h. deutschsprachen) und slawischen (d.h. slowenischsprachigen) Teilgebiete verklammert: Manche lateinische Typen haben sich (mehr oder weniger weit) einerseits in den heute romanischsprachigen Regionen erhalten und wurden andererseits in den nachmalig germanisierten bzw. slawisierten Regionen als Substratwörter entlehnt. In analoger Weise hat das lateinisch-romanische Stratum darüber hinaus vorlateinische Substratwörter an die drei Sprachfamilien vermittelt. Ein prototypisches Alpenwort des lateinisch-romanischen Stratums ist lat. excocta, das nominalisierte Partizip Perfekt des Verbs excoquere ‘herauskochen’. Es bezeichnet im APV-Gebiet gewissermaßen ein finales Produkt der Milchverarbeitung, nämlich die Restflüssigkeit (valdost. écouette), die nach der zweiten Gerinnung ('Scheidung') bei der Herstellung der ricotta (alem. Ziger)  übrigbleibt (Kap. 1-100). Zum sachlichen Verständnis ist es angebracht, die Milchverarbeitung sehr stark vereinfacht zu schematisieren:  Die Vollmilch wird entweder entrahmt oder zur Gerinnung gebracht; diese erste Gerinnung erlaubt die Trennung von Frischkäse (Kasein und Fett) und flüssiger Molke; aus der Molke wird dann durch eine zweite Gerinnung bei starker Erhitzung ricotta (Albumin und sehr geringes Restfett) gewonnen; die verbleibende Flüssigkeit enthält praktisch kein Eiweiß und kein Fett mehr. Traditionell gewinnt man aus ihr das saure Gerinnungsmittel für die Ricottaherstellung.   

MILCH → entrahmen RAHM schlagen FESTSTOFFE → BUTTER
FLÜSSIGKEIT → BUTTERMILCH
MAGERMILCH gerinnen lassen FESTSTOFFE →  MAGERKÄSE
FLÜSSIGKEIT
→ erwärmen,
gerinnen lassen,
zerkleinern
= 1. Scheidung
FESTSTOFFE frische Käsemasse,
formen, reifen lassen
→ FETTKÄSE
FLÜSSIGKEIT stark erhitzen,
gerinnen lassen,
zerkleinern
= 2. Scheidung
FESTSTOFFE ita. ricotta, fra. sérac
valdost. brossa
FLÜSSIGKEIT

Sowohl die Flüssigkeit als auch die Feststoffe (ricotta und brossa) werden also buchstäblich ’herausgekocht‘; deshalb ist es nicht überraschend, dass Kognaten von excocta in anderen Alpendialekten auch die Feststoffe bezeichnen. Je nach Gegend stehen sie aber auch noch für weitere Produkte der Milchverarbeitung, die – wie die vorhergehende Skizze zeigt – alle in metonymischer Relation zu einander stehen (Karte 1 – im Anhang – zeigt die APV/1-Belege im alpinen Kontext). 

 

#hier Karte 1 excocta##

interaktive Originalkarte|https://www.verba-alpina.gwi.uni-muenchen.de/?page_id=133&db=xxx&tk=3488&layer=4

Das semantische Spektrum und die Verbreitung zeigen, dass lat. EXCOCTA zum ethnolinguistischen Grundbestand der panalpinen Terminologie gehört.

3.2 Das vorlateinische Substrat

Mutmaßliche Substratwörter sind byetsé 'melken' (< gallisch blĭgicare, Kap. 1-8), das auch im Alemannischen weit verbreitet ist (vgl. blĭggen, Idiotikon, 5, 45) oder brossa ‘Eiweißteilchen, die bei Erhitzen der Molke aufsteigen’ ( < gallisch *brottiare, Kap. 1-76 E).

#vgl. Karte 2 im Anhang: Verbreitung des Typs lat. *BROTTIARE (interaktive Originalkarte unter https://www.verba-alpina.gwi.uni-muenchen.de/?page_id=133&db=xxx&tk=3490&layer=4 ) Bilder)#

Der Typ brossa ist auch über die Westalpen hinaus im Okzitanischen und Korsischen verbreitet (vgl. südfranz./prov. brousse, korsisch brocciu usw.) Nach Korsika ist er aber wohl mit den westligurischen Siedlern gekommen. In Westligurien ist er seit dem 13. Jahrhundert belegt, wie die folgenden Beispiele1 zeigen. Man beachte, dass die latinisierten Formen dort stets in Verbindung und offenkundig im Kontrast zu Bezeichnungen von KÄSE stehen, der entweder als caseus oder mir einer ebenfalls typisch westalpinen Variante als fructus bzw. frux bezeichnet wird:

  • caseum vel brucium; caseos vel bruceum (Cosio, 1297);
  • caseum, brusum vel carnes salsas (Sanremo 1453);
  • fruges, ova, pissizorias, brucium, perdices, polagium (Albenga 1350);
  • fruges, ova, pissizorias, brocium, perdices, polagium (Albenga 1350);
  • aliquos fructus seu fruges, presinsoriam, bruzium, perdices, polagium (Albenga 1519);
  • rubos quatuor companagii, videlicet bruzii et cazeorum (Albenga 1544)
  • obsonium, bruceum et caseus et alie res que venduntur ad minutum (Triora 1592).

Auch im Gebiet des APV bezeichnen Kognaten von fructus und Ableitungen wie fruitière, fruiterie kollektiv die Produktion der almwirtschaftlichen Milchverarbeitung (Kap. 1-112; vgl. auch TLFi s.v. fruitier). Einen Eindruck der Verbreitung gibt die folgende Karte (ohne die APV/1-Belege):  

#vgl. Karte 3 im Anhang: Verbreitung des Typs lat. *BROTTIARE (interaktive Originalkarte unter https://www.verba-alpina.gwi.uni-muenchen.de/?page_id=133&db=xxx&tk=3490&layer=4 ) Bilder)#

3.3 Das germanische Superstrat

Ein prototypisches Superstratwort ist valdostanisch brela, bzw. der Diminutiv  brelon, (Kap. 1-9) ‘einbeiniger/dreibeiniger Melkschemel’.  Zu Recht wird u.a. auf FEW XV/1, 272 verwiesen, wo der Typ auf ein rekonstruiertes got. *bridilô zurückgeführt wird (und nicht auf mhd. brëtel ‘kleines Brett’, wie das Lemma des FEW in etwas unglücklicher Weise suggeriert). Der Typ entspricht dem ita. predella ‘Fußbänkchen, Schemel’, das in Italien  bis in die Toskana weitverbreitet ist (vgl. TLIO, s.v. predella (link); dieser Typ wird wegen des stimmlosen Anlaut [pr-] jedoch im LEI und im DELI als langobardische Entlehnung gedeutet. Über das Aostatal hinaus scheint er jedoch im Frankoprovenzalisch und in den sich anschließenden fr. Dialekten nicht verbreitet zu sein. Auch in den alemannischen und bairischen Mundarten finden sich keine Entsprechungen; deu. Schemel führt ja seinerseits einen lat.-romanischen Diminutiv von lat. scamnum (> ita. scanno) fort und keine germanische Wurzel (eine Parallelform zu Schemel ist ita. sgabello).

#vgl. Karte 4  *bridilô im Anhang#

Nicht als Germanismus geführt wird dagegen bεt 'Kolostrum': «l'étymon est controversé, mais sans doute à relier avec les formes anciennes ou régionales comme beter ‘se figer, se coaguler’ et béton ‘premier lait’ (cf. GPSR II, 298b, FEW I, 345 *BETTARE et TLFi béton. Der zitierte FEW-Artikel ist jedoch ein wenig unentschieden: Er fragt am Ende «Woher stammt *bettare?» und gibt gleichzeitig den Hinweis «Zur etymologie vgl. *BEOST». Im Hinblick auf das valdostanische und frankoprovenzalische bεt läge es nun semantisch und morphologisch viel näher, direkte Herkunft von altniederfränkisch *beost (vgl. deu. Biest(milch)) link anzunehmen; dieser Typ ist in der östlichen Galloromania vom Frankoprov. bis ins Wallonische sowie im gesamten Süddeutschen Raum verbreitet. Er fehlt dagegen östlich vom Aostatal im romanischen Alpengebiet, so dass man an eine Superstratentlehnung aus merowingischer Zeit denkt, denn das Aostatal und die Westalpen gehörten seit 575 zum Merowinger Reich, während der Rest Oberitaliens langobardisch blieb (Link).

#vgl. Karte 5 im Anhang *beost#

3.4 Die französische Dachsprache

Der Typ bidongroßer, zylindrischer Milcheimer aus Blech, mit Deckel’ (Kap. 1-38) zeigt weiterhin, dass sich auch rezente Strata wie die fra. Dachsprache niedergeschlagen haben; er ist übrigens auch  im schweizerischen Wallis und dort – über das Frankoprovenzalische hinaus – in alemannischen Walsermundarten verbreitet (vgl. SDS VII, 4, 1). Der Kommentar beschreibt diesen Typ als «dérivé du germanisme nordique de filière galloromane (normande, peut-être, e d’ici dans le français central ; cf. FEW XV/1, 104)  BIĐA» (Kap. 1-38). Das mag für den etymologischen Ursprung stimmen, obwohl der Trésor de la langue française Vorbehalte anmeldet und von «orig[ine] obs[ure]» spricht (Link). Entscheidend ist jedoch, dass der Typ auf dialektaler Ebene keinerlei Affinität zum Frankoprovenzalischen oder mindestens zum Ostfranzösischen aufweist; das geht aus den Belegen im (FEW 15/1, 103 f.link) sehr klar hervor. Das Wort ist deshalb sicherlich ganz unabhängig von einer eventuellen germanischen Herkunft über die französische Dachsprache verbreitet worden. Anstatt von einem ‘Germanismus’ (wie im APV/1) sollte von einem Französismus geredet werden.

Fazit

Es versteht sich von selbst, dass man – wie in den diskutierten Beispielen angedeutet – in lexikologischer Hinsicht, speziell im Hinblick auf die Etymologie gelegentlich anderer Meinung sein kann. Das ist kein Anlass zur Kritik, denn eindeutig ‘wahre’ oder ‘falsche’ Ansätze sind häufig, insbesondere im Fall der Substratwörter und anderer Entlehnungen ohnehin nicht zu erwarten. Mindestens so wichtig wie die Entscheidung für eine bestimmte Etymologie ist es daher die konkurrierenden Vorschläge zu resümieren; das leisten die Kommentare des APV/1 in übersichtlicher und sehr nützlicher Weise. Man darf also sehr gespannt sein auf die Fortsetzung des Unternehmens.

in Biblio aufnehmen:

Krefeld, T.: s.v. “Wissenschaftskommunikation im Web”, in: VerbaAlpina-de 20/2 (Erstellt: 16/1, letzte Änderung: 19/1), Methodologie, https://doi.org/10.5282/verba-alpina?urlappend=%3Fpage_id%3D493%26db%3D202%26letter%3DW%2362

Lücke, S.: s.v. “Normdaten”, in: VerbaAlpina-de 20/2 (Erstellt: 18/2, letzte Änderung: 19/2), Methodologie, https://doi.org/10.5282/verba-alpina?urlappend=%3Fpage_id%3D493%26db%3D202%26letter%3DN%23114

Cartodialect (imag.fr)
https://www.atlante-aliquot.de/index.php

############

cf. ALF 129b bête, s + t frpro scempiamento della s ,

prob. da separare da *bettare 'coagulare' (FEW 1, 345) per motivi geoling. e semantici; il collegamento dei due tipi è poco chiaro  link

 

Aber  Dachspürachen#aufzählung#

#Schluss#??#

#Diese Strata, die in den Einzelkommentare aufscheinen, hätten etwas eindeutiger identifiziert und etikettiert werden. ###ident Eine kritische Bemerkung verdient allerdings der Umgang mit dem Ausdruck germanique [germ.], denn darunter werden Konstellationen zusammengefasst die stratigraphisch sehr unterschiedlich zu beurteilen sind.

Hier einige Beispiele:

(1) Ein wird im Westen des APV-Untersuchungsgebiets mit dem T

 

: "1 Piccola pedana con funzione di appoggiapiedi o di sgabello." significato 'sgabello' corrisponde più o meno, distribuzion toscana e bologn.

quindi: non si tratta di un germ. local; in zona tedecosfono lo sgabello viene mai designato dal tipo Brett ##VA????##, anzi in ted. Schemel e un prestito lat. dim. di scamnum *scamillus Kluge 800

  

#?#, wird jedoch der Wortgeschichte vermutlich nicht gerecht

, pare essere un francesismo recente, perchésenza parallele nei dintorni##??## niente di francoprov o alpino, diffuso dalla Normandie, dal XVII secolo in poi, attestato solo in islandese antico link

??solo per recipienti di latta, quindi moderni?? il recipiente classico essendo di legno

fuorviante parlare di "germ. BIĐA" (419, fra. bidon)

 

(3)

###

 

Allenfalls bestimmte   , die wortgeschichtlichen darf man wird man auf diesem Gebiet ohnehin nicht wrtaen   wrde, mit

Im entrum ; sie nimmt eine in der Tradition der Sprachatlanten eher periphere

ganz eindeutig ein Man in abe die umDer Horizont

Im Hinblick auf die Punkte

mit ihrer kulturellen und idilektalen  haben r    in dem sie stand und steht .

22 Orte, davon 2 in F,  2 in Piemont und 2 im Wallis

"Pour chaque point d'enquête, les réponses proviennent d'un nombre variable de témoins «qualifiés», choisis parmi les patoisants locaux." (10)

Ein Profil der Informanten wurde nicht publiziert

112 thematisch Artikel, die nach den folgenden vier Gebieten geordnet sind: La traite (1-19), Entre l’étable, la cave et la fruitière (20- 48), Le beurre (49-73), Le sérac et les produits dérivés des petits-laits (74-112) (Link)

1-111 le cellier a fromages s. 201 f.

crypta (https://www.verba-alpina.gwi.uni-muenchen.de?page_id=133&db=202&tk=3304)

angegeben ist www.patoisvda.it. = tot

https://www.patoisvda.org/atlas-patois-valdotains/

Reste vom Voratrag in Aosta:

###fine######

Alpina  alpine di alcuni lessotipi.l'esistenza  *excocta / cocta aber nicht für molke = petit-lait du fromage 1-100

cf. mappa di VerbaAlpina SIERO DI LATTE Link

cioè sostratico nelle zone tedescofona e slovenofona

KÄSEKELLER: Typ le cellier à fromages  cellarium
1-111
ZIGER / le sérac
1-74

MOLKE nach der zweiten Scheidung le petit-lait résiduaire (du sérac)
1-81

*excocta, cocta etc.

Mapp VA (Link)

,  sembra essere per niente

 

il signifin un singolo paese – anche     derivato diminutivo d (link)

situlus??

AUFSTEIGENDE EIWEISSTEILCHEN DIE BEI ERHITZEN DER MOLKE AUFSTEIGEN NACH DER ZWEITEN SCHEIDUNG

link

mappa di VA *BROTTIARE link

--> Korsika brocciu

bletsé MUNGERE, mappa di VA *bligicare #eher alpino occidentale

#Area fr#

I cosiddetti 'germanismi'

L'APV/1 comprende aluni elementi di origine germanica; questo termine generico è però fuorviante, perché essi aprono epoche e costellazioni di contatto molto diversi.

 

bletsé MUNGERE, mappa di VA *bligicare #eher alpino occidentale

bletsé MUNGERE, mappa di VA *bligicare #eher alpino occidentale

https://www.patoisvda.org/moteur-de-recherche/bl%C3%A9ts%C3%A9_7909_4/

romanzo locale -- latino locale??

selzionati mostrano che i patois valdostani si inseriscono in modo

vanno quindi gli esempi presentati sono selzinati ale
KÄSE
1-182 le fromage [gén.]

2 spz., etym. unklare Typen *fièitse *bédzo *cafo

 

Area francese

 

??Area del versante sud delle Alpi

Area gallo-alpina

evtll Quark / caillé

Area galloromanza orientale e tedesca

 

magari il verbo un der. dal sost. e non in senso contrario?

###

Der APV/1 erhebt den unbedingt vorbildlichen Anspruch auch für Laien – nicht zuletzt für die Sprecher*innen selbst – verstehbar zu sein und so zur Divulgation der Geo- bzw. Ethnolinguistik beizutragen:

#gibt es eine enstsprechende bem auch im Band?#

"I 112 articoli principali che compongono il volume esplorano le “parole” e le “cose” di un settore fortemente caratterizzante la cultura materiale alpina tradizionale: la filiera del latte. Lo fanno tenendo certamente presente la tradizione scientifica consolidata della geolinguistica delle lingue romanze, ma con una particolare attenzione anche alla “divulgazione” dei contenuti scientifici, al loro riutilizzo come tema di interesse nella scuola valdostana, alla loro “restituzione” alla comunità locale (patoisante e non) che ne è, a ben vedere, la prima proprietaria." (Quelle

Gemessen an dieser Absicht ist die grundsätzliche Entscheidung  für eine gedruckte, buchförmige Publikation schwer nachvollziehbar. Denn einer der unbestreitbaren Vorzüge der Web-Publikation besteht ja gerade in ihrer vollkommen uneingeschränkten Verfügbarkeit – von den anderen Option, wie z.B. der Möglichkeit auch Audiomaterial einzubinden und Aggregierbarkeit durch daten anderer Atlanten/Lexika einaml ganz abgesehen.

###

 

Hans Goebl
GIOVANBATTISTAPELLEGRINI UND ASCOLIS
METHODE DER "PARTICOLAR COMBINAZIONE"
Ein Besprechungsaufsatz, Ladinia 23 (1999) 139-​181.

Modell

Brather, Sebastian, Ethnische Identitäten als Konstrukte der frühgeschichtlichen Archäologie,
Germania 78 (2000), 139–171.
Heitmeier, Irmtraut, Das Inntal. Siedlungs- und Raumentwicklung eines Alpentales im Schnittpunkt
der politischen Interessen von der römischen Okkupation bis in die Zeit Karls des
Großen, Innsbruck, Wagner, 2005.

Martin, Jean-Baptiste / Tuaillon, Gaston (1971, 1978, 1981): Atlas linguistique et ethnographique du Jura et des Alpes du nord, Paris, vol. 1, 3, 3a, Éd. du Centre National de la Recherche Scientifique


  1. Für die Bereitstellung der Belege danke ich Fiorenzo Toso; sie stammen aus dem Material des noch unveröffentlichten Dizionario etimologico storico genovese e ligure 


Bibliographie

  • TLIO = Eintrag nicht gefunden
  • ALEPO = Telmon, Tullio (2013): Atlante Linguistico ed Etnografico del Piemonte Occidentale III: Il mondo animale: I La Fauna: II caccia e pasca, Alessandria, vol. 3, Edizioni dell’Orso. Link
  • ALJA = Martin, Jean-Baptiste / Tuaillon, Gaston (1971, 1978, 1981): Atlas linguistique et ethnographique du Jura et des Alpes du nord, Paris, vol. 1, 3, 3a, Éd. du Centre National de la Recherche Scientifique
  • Gra.fo = Calamai, Silvia / Bertinetto, Pier Marco (2014): Le soffitte della voce: il progetto Grammo-foni, Manziana (Roma), Vecchiarelli. Link
  • Idiotikon = (1881 ff.): Schweizerisches Idiotikon. Schweizerdeutsches Wörterbuch, Basel. Link
  • Sottile 2002 = Sottile, Roberto (2002): Lessico dei pastori delle Madonie, Palermo, Centro di studi filologici e linguistici siciliani. Link